Begonnen hatte der Boom bereits einige Jahrzehnte zuvor: Vereinsnamen wie „Rakete”, „Blitzpost” oder „Konkurrenzlos” zeugen vom Sportsgeist und von der Aufbruchstimmung.
Die Reisevereinigung (RV) Wattenscheid – ein Zusammenschluss von 26 Vereinen aus der Hellwegstadt und umliegenden Städten – feierte nun ihr 90-jähriges Bestehen. Grund genug für die langjährigen Mitglieder Hermann Zumbrink und Reinold Berlin, die Vereinschronik aufzuschlagen.
„Der Taubensport war eng mit der Industrialisierung dieser Region verknüpft.” Um 1900 strömen viele Menschen ins Ruhrgebiet, auch nach Wattenscheid. Es entstehen im großen Stil Wohnsiedlungen für Bergbau- und Stahlarbeiter. Diese Siedlungen werden mit Stallungen und Gärten ausgerüstet – „ein ideales Umfeld für Taubenzüchter”, sagen Zumbrink und Berlin aus eigener Erfahrung.
Um ihre Tiere nicht mehr in die Nachbarstädte schicken zu müssen, gründen Wattenscheider Züchter und neun Vereine am 9. November 1919 im Vereinslokal Hubert Hölscher (Querstraße) eine eigene Reisevereinigung. Das Protokoll der Versammlung, in feiner Sütterlinschrift verfasst, liegt noch vor. Die Gründungsväter: Karl Weber (zugleich erster Vorsitzender), Bernhard Ruth, Heinrich Dietrich, Paul Kleine, Josef Nikowski, Franz Stahl, Peter Peren, Fritz Midderhoff, Hermann Obermüller, Ferdinand Unterhalt und Hermann Ruhrmann.
Die Inflation 1923 macht sich auch bei den Züchtern bemerkbar. Denn die Abwertung des Geldes verlief so schnell, dass zehn Pfund Taubenfutter mehr Wert waren als eine Million Reichsmark. 1941 wird das Taubenschicken wegen Kriegseinwirkung eingestellt; Brieftauben müssen der Wehrmacht übergeben werden – um Nachrichten zu übermitteln. 1947 gaben die Alliierten das Taubenschicken wieder frei.
Bis 1959 werden die Tiere noch per Bahn transportiert und am Zielort auf Nebengleisen aufgelassen. Dann beschreiten die Taubenväter mit dem Kauf eines eigenen Lastwagens ganz neue Wege. Der Kabinenexpress legte zigtausend Kilometer zurück, mit ihm können die Zielorte beweglicher angefahren werden.
Der Fortschritt hält auch bei der Auswertung der Tauben-Ankünfte Einzug, als 1980 die EDV eingeführt wurde. Erfolgte früher die Ringauswertung noch manuell, macht jetzt die Technik alles einfacher. Noch schneller ging es mit der Einführung des elektronischen Konstatierens 1994 – die ankommenden Tauben werden wie beim Scanner an der Supermarktkasse automatisch erfasst.
Das moderne RV-Einsatzzentum am Bunker Bismarckplatz haben die Mitglieder im Jahr 1972 mit viel Eigenleistung aufgebaut.
Machte die Technik vieles einfacher, ist ein Problem geblieben: Verluste durch Raubvögel wie Sperber, Habicht, Bussard. So manche Taube kehrte nicht mehr in den heimischen Schlag zurück – darunter auch wertvolle „Champions”.
Nachwuchs gesucht
Nach der Reisesaison von April bis September ist derzeit Ruhe- und Pflegezeit für die Tiere angesagt. Die RV Wattenscheid lädt alle Interessierten ein, sich über das Taubenhobby zu informieren. Das sei weniger aufwändig als viele glaubten, die RV steht mit Rat und Tat zur Seite.